Grundlagen - Rolle der Forschung
Wissenschaft und Praxis gehen idealerweise Hand in Hand. In der Realität erweist sich die Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis oft als schwierig, auch weil diese Erkenntnisse oft unter sehr kontrollierten Bedingungen erlangt werden. In den Medien werden Forschende häufig als jene porträtiert, die sich hoch oben in ihrem Elfenbeinturm mit alltagsfernen Themen beschäftigen. Am Beispiel Saerbeck möchten wir zeigen, dass die Realität kaum weiter entfernt davon sein könnte.
Gerade in Zeiten des Klimawandels und der drängenden Frage, wie wir in Zukunft leben wollen und können, wird das Zusammenwirken verschiedener Forschungszweige und Beteiligter aus der Praxis gefordert. Während es sich zum Beispiel die Aktions- bzw. Handlungsforschung zum Selbstverständnis gemacht hat, noch während des Prozesses die neugewonnenen Ergebnisse unmittelbar in die Praxis einzubeziehen und anzuwenden, geht die transdisziplinäre Forschung einen Schritt weiter. Transdisziplinäre Forschung ist eine akteursorientierte Forschung, die Praxisakteure direkt mit in den Forschungsprozess miteinbezieht. Damit beschäftigt sie sich mit aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen zugunsten der Anwendenden und verhilft zu einem reibungslosen Übergang in die Praxis (Defila & Di Giulio 2018: 43). (Transdisziplinäre) Forschung ist demnach kein Selbstzweck, sondern ist bedarfsorientiert und an gesellschaftlichen oder technischen Phänomenen und Problemfeldern orientiert.
Zusammen mit der Fachhochschule Münster als unmittelbarem räumlichen Nachbarn und dem Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel hat sich die Gemeinde Saerbeck zu einem Ort der Forschung und des Wissenstransfers entwickelt und ermöglicht einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung technischer sowie (bildungs-)politischer Fragestellungen.
Saerbeck als Reallabor - Zusammenarbeit mit der Fachhoschule
Vor dem Hintergrund einer dringend notwendigen klimaneutralen Energieversorgung wurde Saerbeck Anfang der 2000er Jahre für die FH Münster interessant. Als ein sogenanntes Reallabor verfolgte es zwei Zielsetzungen: Die Erkenntnisgewinnung und das Anstoßen von Transformationsprozessen (Beecroft et al. 2018).
Seit 2019 untersucht die FH Münster am Standort Saerbeck z. B., welche Speichertechniken die zeitliche Lücke zwischen Stromerzeugung und –bedarf schließen können – eine Schlüsselaufgabe der Energiewende. Das im Fachbereich Energie · Gebäude · Umwelt im Saerbecker Bioenergiepark betriebene Labor beschäftigt sich dazu mit der Optimierung von Biogasanlagen und der umfänglichen Nutzung von Erneuerbaren Energien sowie dem Ausgleich von Schwankungen mithilfe von Speichertechnologien vor dem Hintergrund unvermeidbarer Energiespitzen und -flauten (EnerPrax). Saerbeck begleitet hierfür gezielte kleinschrittige Forschungsarbeiten der FH-Studierenden, die sich dieser wichtigen Aufgabe stellen.
„Sie können Klimaschutzkonzepte machen ohne Ende, aber das ist dann beschriebenes Papier. Und dann so ein Konzept zu realisieren, hochzusetzen und die Projektumsetzung zu überleben, ist das, was es hier besonders macht"
Mit dem Ziel, Einsichten zu Wirksamkeit und Nutzen der Maßnahmen der Klimakommune zu gewinnen, wurde das IPN zur wissenschaftlichen Begleitung des außerschulischen Lernstandorts, der Lehrkräftebildung und des Beteiligungsprozesses im Rahmen der Wärmewende über das Projekt SaerbeckPLUS ins Boot geholt. Der ASL , an dem die Energiewende erfahren, bestaunt und verstanden werden soll, ist ein idealer Ort, um die kommenden Generationen für Natur- und Gesellschaftswissenschaften sowie die Themen der Nachhaltigkeit zu sensibilisieren. Denn laut dem Nationalen Aktionsplan zur Bildung für Nachhaltige Entwicklung (Nationale Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung 2017) sowie dem entsprechenden UNESCO-Weltaktionsprogramm (www.bne-portal.de) erfüllt Bildung eine Schlüsselfunktion zur Förderung von Umweltbewusstsein, zum ökologischen Handlungswillen und zur Gestaltungskompetenz. Vor Ort kann technische „Hardware“ (Anlagen zur erneuerbaren Energieerzeugung im Bioenergiepark) mit der „Software“ (Verstehen und Begreifen, Bildung und Transfer mit bildungswissenschaftlicher Fundierung) und der „Orgware“ (wirtschaftliche und soziale Organisation und Steuerung der Projektumsetzung) verknüpft werden.
Wärmewende – ein anspruchsvoller Weg
Als Saerbeck 2014 für sein Feinkonzept zur Umsetzung einer Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) auf Kommunalebene in Zusammenarbeit mit der FH beim NRW- Landeswettbewerb als „KWK-Modellkommune“ ausgezeichnet wurde, nahm das Thema des Wärmeanschlusses erstmalig Fahrt auf. Die geplanten Maßnahmen des Konzeptes könnten eine jährliche Einsparung an CO2-Emissionen von über 8.500 Tonnen bewirken – eine Reduktion von ungefähr 25 % der CO2-Emissionen der Gemeinde vom Jahr 2012. Die Erwartungen waren hoch, aber das Projekt musste wieder auf Eis gelegt werden – es war trotz umfangreicher Förderung zum damaligen Zeitpunkt nicht wirtschaftlich real.
„Das war vielleicht dann doch ein bisschen ärgerlich, aber das würde ich so als Erfahrung mitnehmen aus dem Projekt. Aber dass das Projekt angestoßen wurde und dann doch gescheitert ist, da muss man ganz klar sagen, shit happens. Aber jetzt bei dem nächsten Fernwärmeprojekt haben wir natürlich schon eine Vorbelastung. Das darf nicht nochmal passieren.“
Um das Vertrauen, aber auch das Interesse der Bürgerinnen und Bürger nach einem ersten Dämpfer zurückzuerlangen, war man sich einig, die Wärmewende mit vornehmlich partizipativen und ergebnisoffenen Verfahren anzugehen und dieses auch wissenschaftlich durch das IPN Kiel begleiten zu lassen. In dem gemeinsamen Projekt , welches durch das BMBF gefördert wurde, greifen die Kolleginnen und Kollegen des IPN auf Erfahrungen aus anderen dort laufenden Projekten zurück und lassen diese in den Beteiligungsprozess zur Wärmewende mit einfließen. Im Projekt BriCCS wird dort etwa der Zusammenhang zwischen Risikowahrnehmung, Climate Literacy und klimafreundlichen Handlungen untersucht, im Projekt EnergieweltenPLUS wird erforscht, was Lehrkräfte brauchen, um Klimawandel und Klimaschutz sinnvoll im Unterricht zu vermitteln. Mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) werden gemeinsam Module zum Thema „Klimawandel vermitteln und Betroffenheit wecken“ entwickelt und mit Referendarinnen und Referendaren pilotiert.
Um die Handlungsfelder des IKKK (vom Bioenergiepark über Bildung bis hin zu Controlling und Finanzen) zu realisieren, setzte Saerbeck von Stunde null an auf eine intensive und interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Disziplinen, die sich in einer Steuerungsrunde zusammenfanden. So konnten lokales Wissen mit externem Know-How zielführend miteinander verbunden werden. Dieser interdiziplinäre Ansatz und eine ganzheitliche Projektumsetzung, bei der z.B. Bildung für den Klimaschutz mit konkreten Projekten verknüpft wird, waren mit ausschlaggebend für die Breite und Tiefe der zahlreichen Projekte – viele kleine und große.
Die Steuerungsrunde tauscht sich im regelmäßigen Turnus über gegenwärtige und geplante Maßnahmen der Klimakommune aus und sichert einen regen Wissenstransfer.
„Wissen Sie, der Erfolg der Steuerungsrunde liegt daran, dass wir alle so unterschiedlich sind. Wir waren 12 Personen, da habe ich gedacht ‚uiuiui‘, wird das was mit denen hier, ganz unterschiedlich zusammengesetzt. Da war ein BWLer, ein Denker, ein Planer, ein Geograph, Redakteurin, Verwalter, der Bürgermeister, die Hochschule, ganz unterschiedliche Persönlichkeiten mit ganz unterschiedlichen Erfahrung zu den Zeiten. Und das hat es letztlich ausgemacht.“
Aktuelle Entwicklungen zur Wärmewende in Saerbeck finden Sie hier.
Literatur:
Beecroft, R., Trenks, H., Rhodius, R., Benighaus, C., & Parodi, O. (2018). Reallabore als Rahmen transformativer und transdisziplinärer Forschung: Ziele und Designprinzipien. In R. Defila & A. Di Giulio (Hrsg.), Transdisziplinär und transformativ forschen. Eine Methodensammlung (S. 75-100). Wiesbaden: Springer VS.
Defila, Rico; Di Giulio, Antonietta (Hg.) (2018): Transdisziplinär und transformativ forschen. Eine Methodensammlung. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH. Wiesbaden, Germany: Springer VS (Open). Online verfügbar unter http://www.springer.com/.
Dies sind die Ergebnisse eines durch das BMBF geförderten Forschungs- und Entwicklungsprojektes zwischen dem IPN Kiel und dem Förderverein Klimakommune Saerbeck e.V. Gegenstand war u.a. die wissenschaftliche Begleitung der Klimakommune in Fragen der Bürgermitwirkung sowie der Identifikation von Wirkungs- und Erfolgsfaktoren.