Grundlagen - Change Agents
Langfristige Veränderungen voranzubringen, wird häufig als Herkulesaufgabe betrachtet. Menschen seien träge, sie orientieren sich an der Masse und wollen lieber in dem ihnen bekannten Gewässer schwimmen. Es ist jedoch ein weit verbreiteter Irrglaube, Wandel käme nur durch politischen oder wirtschaftlichen Druck zustande. Aus der Transformationsforschung vielmehr geht hervor, dass auch einzelnen Individuen bei der Veränderung gesellschaftlicher Systeme eine zunehmend wichtigere Rolle zuzuschreiben ist. Statt vom business as usual zu profitieren, wird sich aktiv bei der Initiierung eines Veränderungsprozesses beteiligt. Diese Akteure werden auch Pioniere des Wandels oder „change agents“ genannt.
In Saerbeck ist man davon überzeugt, dass die Umsetzung ohne die einleitenden und mobilisierenden Maßnahmen des Bürgermeisters, einer der zentralen „change agents“ von Saerbeck, nicht in dieser Form geschehen wäre. Befragte Bürgerinnen und Bürger beschrieben Saerbeck als ein recht „konservatives Dorf“, welches in der Nachbarschaft nicht zwingend für seine nachhaltigen Klimaschutzkonzepte bekannt war. Durch einzelne entscheidende Akteure konnte sich der Ort zu dem entwickeln, was er heute ist: Ein Ort, wo Wandel gelebt wird.
Wie ist das gelungen? Natürlich führen viele Wege nach Rom, aber es scheint unabdingbar, an dieser Stelle die Rolle der change agents hervorzuheben. Sie gehen als Pioniere beim sozialen Wandel in strategischer und zielgerichteter Manier voran, wobei neue Technologien (Gläserne Heizzentrale in Saerbeck) und Ideen („Klimaneutral bis 2030“) einen besonderen Stellenwert einnehmen. Change Agents formulieren überzeugende Veränderungsideen, vernetzen sich mit ihren Mitstreitenden, können Nachahmende für sich gewinnen, scheuen nicht den Aufwand und passen Rahmenbedingungen zugunsten der Veränderungsabsicht an. So beschrieb ein Ehrenamtlicher der Klimakommune den Bürgermeister mit vielen ähnlichen Eigenschaften:
„Das ist der Vater der Ideen. Das ist derjenige, der die Steuerungsrunde zusammengestellt hat. Das ist derjenige, der die Motivation verbreitet hat, die gute Stimmung, die gute Laune, die Hoffnung, dass das alles gut geht. Der immer wieder dafür gesorgt hat, dass das weiter geht.“
Eine Besonderheit liegt auch in seinen außeralltäglichen individuellen Fähigkeiten begründet, wie der Zugewandtheit zu seinen Bürgerinnen und Bürgern, indem er im Rathaus immer seine „Türen geöffnet“ und sich Zeit für einen Plausch genommen hat.
„Der damalige Bürgermeister war natürlich ein sehr großer Initiator“, der Innovationen verbreitete, indem er die hergebrachten Praktiken hinterfragte und eine alternative Politik schaffte.
Und obwohl die Implementierung von neuen Einstellungs- und Verhaltensmustern (Solaranlagen auf dem Dach) viel Mut bewies, „hatte der Bürgermeister da auch ein Händchen dafür, Begeisterung zu erwecken für diese Sachen. Das führte dann eben dazu, dass der Boden bereitet war, dass man über die Pflichtaufgaben hinausging.“
In der Fachliteratur spricht man davon, dass diese Offenheit gegenüber Veränderungsprozessen, um sich in Zeiten des Klimawandels resilient (also widerstandsfähig) zu machen, eine der wichtigsten Charakteristika jener Pioniere zu sein scheint, was sich auch in den Aussagen der Interviewpartner widerspiegelt. Nachdem der Bürgermeister als eine der zentralen Figuren identifiziert war, fanden sich entlang der 3 P‘s (Persönlichkeit, Prinzipien, Praktiken) viele notwendige Eigenschaften eines change agents. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass ein change agent keinesweg eine Führungsposition innehaben muss, um Einfluss zu nehmen. Das Bekleiden des Bürgermeisteramts scheint jedoch einen gewissen Vorteil für die Erreichung größerer Gruppen zu bieten.
So wird die Energiewende in Saerbeck durch ein Zusammenspiel von technischen Innovationen und dem gemeinsamen getragenen „Spirit“ vorangebracht, wie anhand der folgendenden Aussagen erkenntlich ist:
„Was ich sehe, dass wir einen relativ hohen Anteil an PVA in den Siedlungen haben.“
„Ich habe ja PV schon seit 10, 12 Jahren. Links und rechts ein Nachbar auch.“
Wenngleich die Rolle des Bürgermeisters eine sehr zentrale war, war sie dennoch ein Puzzleteil von vielen. Ohne die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger fehlten Ressourcen wie Zeit, Geld und Wissen. Man ist sich einig, dass die Betroffenen ins Boot geholt werden müssen, denn:„ sonst würde das Ganze auch nicht funktionieren, wenn das so eine ‚one man show‘ ist.“
„Man hat hier vor Ort eigentlich alle Akteure eingesammelt, angefangen bei der Volksbank bis hin zu den Verkehrsvereinen oder dem Heimatverein bis man irgendwann auch mal einen eigenen Verein gründete, den Förderverein."
„Ich sag immer, wenn ich Politik machen will, dann sitze ich hier und wenn ich was bewegen will, dann gehe ich nach Saerbeck.“
Literatur:
WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2011): Hauptgutachten. Welt im Wandel - Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation; Berlin: WBGU.
Dies sind die Ergebnisse eines durch das BMBF geförderten Forschungs- und Entwicklungsprojektes zwischen dem IPN Kiel und dem Förderverein Klimakommune Saerbeck e.V. Gegenstand war u.a. die wissenschaftliche Begleitung der Klimakommune in Fragen der Bürgermitwirkung sowie der Identifikation von Wirkungs- und Erfolgsfaktoren.